Dass Pegida vor allem in Ostdeutschland Zulauf findet, führt Elmar Brähler auch auf strukturelle Probleme zurück. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Seit 2002 spürt eine Arbeitsgruppe der Universität Leipzig rechtsextremen Einstellungen nach. Bei der sogenannten Mitte-Studie werden alle zwei Jahre immer dieselben Fragen gestellt. Im vergangenen Jahr hat der Sozialpsychologe Elmar Brähler gemeinsam mit Kollegen rechtsextreme Einstellungen erneut repräsentativ erhoben. Am Donnerstag stellt er die Ergebnisse an der Hochschule Esslingen vor. Die EZ hat ihn vorab interviewt.

Wie definieren Sie die Mitte der Gesellschaft?

Brähler: Der Mitte-Begriff wird unterschiedlich gebraucht und ist sehr schillernd. Im politischen Umfeld fasst man darunter Menschen mit einer normalen oder durchschnittlichen politischen Einstellung. Rechts und links davon gibt es dann ein paar politisch Durchgeknallte. Wir haben unsere Studie deshalb so genannt, weil wir festgestellt hatten, dass ausländerfeindliche und chauvinistische Einstellungen aber nicht nur an den politischen Rändern, sondern auch bei sehr vielen Wählern der großen Parteien verbreitet sind.

Und warum heißt Ihre jüngste Studie „Die enthemmte Mitte“?

Brähler: Teile von eigentlich biederen Menschen benehmen sich plötzlich sehr rüpelhaft und attackieren Politiker. Ich erinnere an Renate Künast, die kürzlich Leute aufgesucht hat, die sie attackiert hatten, die aber eigentlich ganz unauffällig und normal wirkten. Die Leute, die pöbeln und schamlos agieren sind keine durchgeknallten Extremisten vom Rand des politischen Spektrums, sondern auch biedere Spießbürger.

Worauf führen Sie die um sich greifende Enthemmung zurück?

Brähler: Wir hatten auch früher in der Bevölkerung viele fremdenfeindliche und antisemitische Einstellungen, aber es war sozial und gesellschaftlich verpönt, sich derart rüde zu äußern. Jetzt gibt es weniger Hemmungen. Pegida und ihre Ableger sind ein Inbegriff davon, dass sich Leute versammelt haben, die rüde agieren. Untersuchungen zeigen, dass sich die politischen Einstellungen der Pegida-Anhänger nicht eklatant vom Durchschnitt der Bevölkerung in Dresden und im Osten unterscheiden.

Sind Ausgrenzungstendenzen eher ein Phänomen der östlichen Bundesländer?

Brähler: Ost-West-Vergleiche sind schwierig, weil wir im Osten die besondere Situation haben, dass vor dem Mauerbau und nach dem Mauerfall sehr viele in den Westen migriert sind. Allein über eine halbe Million gut ausgebildeter Ostdeutscher ist nach Bayern gegangen. Die Intelligenz ist geflohen. Wenn man die sozialstrukturellen Parameter herausrechnet, dann verschwinden die Unterschiede. Vieles, was wir im Osten feststellen, geht auf die dort immer noch vorhandenen strukturellen Probleme zurück. In vielen Dingen ist der Osten noch abgehängt. Und gerade dieses Gefühl, abgehängt zu sein, spielt bei Pegida eine Rolle. Aber bei der Islamfeindlichkeit gibt es zwischen Ost und West keine großen Unterschiede.

Wann sind denn die Hemmungen gefallen?

Brähler: Das erste Mal ist mir das aufgefallen, als Thilo Sarrazin seine türkenfeindlichen Pamphlete in großen Versammlungshallen verbreitet hat. Da wurden plötzlich ungefiltert Äußerungen laut, die man früher so nicht gemacht hätte.

Spielen die sozialen Netzwerke eine Rolle?

Brähler: Früher wurde in den sozialen Netzwerken anonym agiert. Heute werden aber Pöbeleien bis hin zu Morddrohungen unter Namensnennung verbreitet. Durch die sozialen Netzwerke finden die Pöbeleien eine viel schnellere und größere Verbreitung. Die Enthemmung in den sozialen Netzwerken liegt auch daran, dass es derzeit noch wenig Handhabe gibt, dagegen vorzugehen. Da der Strafdruck fehlt, greifen diese rüden Angriffe immer weiter um sich. Die sozialen Medien haben dazu beigetragen, dass sich allgemein das Klima verändert. Das kann man übrigens auch bei Leserbriefen in den Zeitungen feststellen.

Welche Ergebnisse haben Ihre jüngste Studie erbracht?

Brähler: Im Zeitverlauf haben wir seit 2002 bei den rechtsextremen Einstellungen keine Zunahme bemerkt. Fremdenfeindlichkeit war stets auf einem sehr hohen Niveau. Das hat sich nicht verstärkt.

Was bedeutet sehr hohes Niveau?

Brähler:2012 waren in einigen Gebieten mehr als 50 Prozent der Meinung, dass wir in gefährlichem Maß von Ausländern überfremdet sind. Daran hat sich seither nichts geändert. Zugenommen hat aber die Feindlichkeit gegenüber bestimmten Gruppen.

Welche Gruppen sind das?

Brähler: Der Islam ist in den Fokus gerückt. Außerdem die Sinti und Roma, und, was wir glaubten schon hinter uns gelassen zu haben, die Homosexuellen. Das hat deutlich zugenommen. Vor einigen Jahren war es noch der Türke, jetzt steht der Islam im Fokus.

Hängt die Ausgrenzung bestimmter Gruppen und die Angst vor dem Fremden auch von den Lebensumständen ab?

Brähler: Die Angst vor dem Fremden ist in uns drin, wie die Angst vor Spinnen bei uns verankert ist. Es gibt aber auch die menschliche Kultur, die der Biologie Zügel anlegt. Es ist belegt, dass Fremdenfeindlichkeit abnimmt, je mehr Kontakt man zu Fremden hat, zum Beispiel, wenn man Ausländer am Arbeitsplatz oder als Nachbarn kennengelernt hat. In den östlichen Bundesländern hat man festgestellt, dass je weniger Fremde in dem Land wohnen, desto höher ist die Sorge, dass man in gefährlichem Maß überfremdet wird. Gerade Dresden hat nur um die 0,7 Prozent islamische Bevölkerung. Bei der Islamfeindlichkeit oder der Ablehnung anderer Gruppen spielt aber auch immer eine Rolle, dass man einen Sündenbock braucht. Vor allem natürlich, wenn man selbst in einer schlechten wirtschaftlichen Lage ist.

Wie kann die Politik reagieren?

Brähler:Man sollte die Leute nicht verteufeln, sondern ernst nehmen, dass es in unserer Gesellschaft Veränderungen der Arbeitswelt gegeben hat und es heute vor allem bei den Jüngeren eher fraktionierte Berufsverläufe gibt. Und viele, die arbeiten, können davon nicht mehr leben. Wir haben also durchaus soziale Probleme. Gefährlich ist, dass die AfD sich zwar als Anwalt dieser Menschen ausgibt, aber nicht wirklich etwas für die Abgehängten tun will. Wenn man ihr Programm liest, stellt man schnell fest, dass soziale Gerechtigkeit und faire Löhne nicht die Sache der AfD sind. Für sie sind an allem nur die Migranten schuld.

Welche Schlüsse legt Ihre Studie für die demokratischen Kräfte und die Zivilgesellschaft nahe?

Brähler:Man fokussiert sich zurzeit meistens auf die AfD und Pegida und deren marktschreierisches Gehabe. Aber unsere Studie hat auch ergeben, dass es in unserer Gesellschaft viele gibt, die dem Staat wieder mehr vertrauen und der Demokratie näher gekommen sind. Es engagieren sich viele, zum Beispiel in der Hilfe für Geflüchtete. Doch leider geht es meistens unter, dass es dort eine Zunahme gegeben hat.

Warum hat die AfD trotzdem so große Wahlerfolge?

Brähler:Wähler, die fremdenfeindlich eingestellt sind, haben in der Vergangenheit oft CDU oder SPD gewählt. Die haben jetzt bei der AfD eine neue Heimat gefunden. Und auch ein Teil der Nichtwähler. Von den Einstellungen her haben sich in der Bevölkerung jedoch keine dramatischen Veränderungen ergeben. Wir haben sehr viele, die mit staatlichen Institutionen ihren Frieden geschlossen haben. Die demokratischen Milieus haben eher zugenommen.

Halten Sie die Demokratie für ausreichend gefestigt?

Brähler: Wir hatten ja auch einen Stahlhelm-Flügel innerhalb der CDU, und in den 1960er-Jahren saßen über alle Parteien verstreut, im hessischen Landtag mehr als 30 Prozent, alte NSDAP-Mitglieder. Von daher sehe ich das mit der AfD nicht so dramatisch. Wichtig ist, dass man die Probleme, die da sind, benennt.

Die Fragen stellte Dagmar Weinberg.

Elmar Brähler stellt im Rahmen der Ringvorlesung „Wer will die hier schon haben?“ am Donnerstag, 19. Januar, an der Hochschule Esslingen die Studie „Die enthemmte Mitte“ vor. Sein Vortrag, zu dem die Öffentlichkeit eingeladen ist, beginnt um 19.15 Uhr im Gebäude 1, Raum H4, am Standort Flandernstraße.

Zur Person

Elmar Brähler wurde 1946 in Fulda geboren und war von 1994 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2013 Professor für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Psychodiagnostik, in den geschlechtsspezifischen Aspekten von Gesundheit und Krankheit, medizinischen und ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin, in der Arbeitslosigkeit und Gesundheit sowie im Rechtsextremismus. Seit 2002 leitet der Sozialpsychologe gemeinsam mit Oliver Decker und Johannes Kiess die Arbeitsgruppe, die für die sogenannten Mitte-Studien Daten sammelt.