Von Ulf Mauder

Stuttgart - Vor der „Party des Jahres“ will die 21 Jahre alte Kübra lieber nicht an ihre Eltern denken. In der türkischen Familie ist das Leben der lesbischen Tochter tabu. Aber für die junge Frau ist der Christopher Street Day (CSD), das international gefeierte Straßenfest für die Rechte von Homosexuellen, ein Tag der Freiheit. Zur CSD-Parade am 30. Juli in Stuttgart will sich die Erzieherin zeigen, wie sie ist: mit Piercing und gefärbten Haaren - als lebensfrohe lesbische Frau. Während sie in der Türkischen Gemeinde in Stuttgart dem Religions- und Erziehungswissenschaftler Olcay Miyanyedi von ihrem Leben erzählt, mag sie lieber nicht fotografiert werden. Es geht ihr um Rücksicht auf die muslimische Familie. „Wenn jemand homosexuell ist, fürchten schnell auch die Angehörigen um ihren Ruf“, sagt Miyanyedi. „Da denken viele dann, dass die ganze Familie schwul und dass dies eine Krankheit ist.“

Am schlimmsten werde es für die jungen Männer und Frauen, wenn sie in Familientribunalen unter Druck gesetzt würden, sagt Miyanyedi. Der 25-Jährige leitet mit dem Psychologen Jochen Kramer das Pilotprojekt „Kultursensibel“, das Migranten bei Problemen mit der eigenen Sexualität helfen soll.

Junge Türken und andere Migranten erlebten zwar in Deutschland eine offene und tolerante Gesellschaft, sagt Kramer. „Wegen ihres Lebens in konservativ-traditionellen oder stark religiösen Familien können sie aber oft ihre Sexualität nicht frei ausleben“, sagt er. Psychische Belastung und Leidensdruck könnten die Folgen sein. Ziel sei es, Strategien gegen Ausgrenzung zu entwickeln. Geholfen werde den Jugendlichen, mit Ängsten umzugehen. Niemandem werde aber dazu geraten, sich in der eigenen Familie zu outen, sagt Kramer.

Dass die Türkische Gemeinde im Land diesen Weg geht, hat aus Sicht des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschlands (LSVD) „Pilotcharakter“. Es gebe zwar Projekte für Migranten in Organisationen für Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle. „Aber für eine solche Mainstream-Organisation ist das etwas Besonderes“, sagt LSVD-Sprecher Markus Ulrich in Berlin. Für Migranten sei Homosexualität eine zusätzliche Herausforderung, weil sie oft noch stärker auf familiären Rückhalt angewiesen seien.

Die Erzieherin Kübra in Stuttgart kann bestätigen, dass ihre Eltern sich schämten für die sexuelle Orientierung ihrer Tochter. Wenn sie Mutter, Vater und Geschwister besucht, nimmt sie ihre Piercings ab und redet nicht darüber, dass sie eine Frau liebt. „Ich will keinen Streit“, sagt sie. Im Verwandtenkreis gebe es islamische Geistliche und verschleierte Frauen.

Dass sich die Türkische Gemeinde offiziell dem Tabu-Thema stellt, soll auch Eltern toleranter machen. Zum ersten Mal nimmt die Gemeinde in diesem Jahr zudem am CSD in Stuttgart teil. „Die Eltern merken dann, dass sie nicht alleine sind“, sagt der Bundesvorsitzende der Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu.

Es habe zwar Widerstand gegen das Projekt gegeben. „Wir können aber als Verein, der sich gegen Diskriminierung jeder Art einsetzt, davor nicht die Augen verschließen“, betont Sofuoglu. Auch islamisch orientierte Organisationen hätten schon Interesse gezeigt an dem Projekt „Kultursensibel“, sagt er. Viele wüssten nicht, wie sie mit sexueller Vielfalt umgehen sollen. Die Gemeinde wendet sich aber nicht nur an Türken oder Muslime.

Auch andere Jugendliche mit Migrationshintergrund sind angesprochen, ihre Erfahrungen mit den Projektleitern Kramer und Miyanyedi zu teilen. Thomas, 22, dessen Familie aus der zentralasiatischen Republik Kasachstan übersiedelte, erzählt, dass er - weit weg vom Zuhause in Nordrhein-Westfalen - in Stuttgart ein neues Lebensgefühl entdecke. „In der Schule wurde ich Schwuchtel und Schwuli genannt. Dabei wusste ich selbst lange nicht, was mit mir ist“, sagt er. Heute fühle er sich wie befreit.

In der Schwabenmetropole haben die Grünen das Sagen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Oberbürgermeister Fritz Kuhn an der Spitze. Gegen den Widerstand konservativer Eltern haben sie das Thema sexuelle Vielfalt auch im Schulunterricht verankert. Das, sagt Kramer, könne vor allem auch vielen Lehrern helfen, souverän mit schwulen oder lesbischen Schülern umzugehen.