Bunte Vielfalt: Familien sind heute in ganz unterschiedlichen Ausprägungen unterwegs. Unverheiratete, alleinerziehende oder homosexuelle Eltern sind keine Exoten mehr. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

„Früher verhandelten Mutter und Vater, heute verhandeln die Kinder mit - auch ums Holen einer Flasche Bier.“ „Geht die Mutter arbeiten, ist sie eine Rabenmutter, bleibt sie zuhause, ist sie ein volkswirtschaftliches Risiko.“

Von Katja Köhler

Stuttgart - Wie war Familie doch vordem mit Vater, Mutter, Kind bequem. Konrad Adenauer sagte unwidersprochen: „Der Vater ist der Kopf der Familie, das Herz aber ist die Mutter, und als solches gehört sie ins Haus.“ Das war in einer Zeit, als die Deutschen versuchten, ihre traumatischen Kriegserlebnisse mit der Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen und dem trauten Heim zu bewältigen. Inzwischen ist das Leitbild, das in Deutschland von den 50er- bis in die 70er-Jahre galt, nicht nur komplett überholt, sondern wird von Familiensoziologen wie dem Frankfurter Professor Norbert Schneider gar als historische Ausnahme betrachtet. Heute finde eine Rückkehr zur Normalität der Familienvielfalt statt, sagt der Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung bei den zweiten familienpolitischen Gesprächen im Hospitalhof in Stuttgart, die diesmal mit „Und wie geht’s der Familie?“ betitelt waren.

Und, wie geht’s ihr? Schneider formuliert es radikal-ironisch: „Sie ist in der Krise, und das seit 3000 Jahren.“ Familie sei keine statistische Strukturform, sondern ein lebenslanger Prozess, kurz: Familie trete in vielfältigen Formen auf und sei einem andauernden Wandel unterworfen. Ein Beispiel: „Früher verhandelten Mutter und Vater, heute verhandeln die Kinder mit - und sei es nur, wenn sie aufgefordert werden, doch mal eine Flasche Bier zu holen. Die Gewichte verschieben sich.“

In der formelleren Sprache des Statistischen Landesamtes heißt es im soeben erschienenen Familienbericht: „Das Verständnis von Familie ist heute nicht nur in Wissenschaft und Politik, sondern auch in der Bevölkerung breit gefasst.“ Familie sei fast immer mit dem Vorhandensein von Kindern verbunden. Insbesondere in der jüngeren Generation gebe es eine hohe Akzeptanz von verschiedenen Familien- und Lebensmodellen. Die Mehrheit der unter 30-Jährigen betrachte sowohl hetero- als auch homosexuelle Paare ebenso wie alleinerziehende Mütter und Väter mit oder ohne Partner als Familie.

Christel Althaus von der Fakultät Soziale Arbeit Hochschule Esslingen definiert den Begriff der Familie noch etwas weiter: Familie sei da, wo generationenübergreifend Verantwortung übernommen werde. „Nicht jeder Mensch hat Kinder, aber jeder Mensch ist das Kind seiner Eltern“ - und übernehme als solches dann oftmals Verantwortung, wenn diese ihr Leben nicht mehr ohne weiteres selbst organisieren könnten oder gar zum Pflegefall würden.

Im Familienverständnis von Männern habe zudem ein Paradigmenwechsel stattgefunden, wie Bärbl Mielich (Grüne), Staatssekretärin im Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg sagt. „Junge Väter wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen“, sagt sie und liefert damit Wasser auf Schneiders Mühlen, der dafür plädiert, Väter mehr in die Familienarbeit zu bringen. Angesichts des Facharbeitermangels und des Wunsches vieler Männer, weniger, und des Wunsches vieler Frauen, mehr zu arbeiten, könnten seiner Meinung nach so gleich mehrere Probleme gelöst werden: Dann sei eine Umverteilung der Arbeitszeiten und des Einkommens möglich, die Machtverhältnisse würden sich angleichen, die ökonomische Abhängigkeit wäre nicht mehr so groß und Frauen besser ins Erwerbsleben integriert. Obendrein hätte die Industrie einen erweiterten Markt bei den so dringend gesuchten Fachkräften.

Mielichs Hinweis, dass pflegende Frauen besser abgesichert sein sollten und die pflegerische Arbeit besser anerkannt gehöre, nutzt Schneider ebenfalls als Argument. Wenn Männer zunehmend die Pflege von Angehörigen übernehmen würden, könne dies in der Folge bedeuten, dass dieser Arbeit künftig eine höhere Wertschätzung entgegengebracht werde, denn: „Männliche Berufe haben ein hohes Sozialprestige, werden sie weiblich, verlieren sie es.“ Schneiders Botschaft: „Auch deshalb ist es ein klares politisches Ziel, Männer in die Familienarbeit zu integrieren.“

Der gemeinsame Nenner aller Gesprächsteilnehmer lautet: Familie ist vielfältig und sie ist zeitintensiv. Die Anforderungen der Leistungsgesellschaft sind enorm gestiegen, und der Druck kommt bei den Eltern auch an. Stephanie Saleth, Familienforscherin beim Statistischen Landesamt, spricht von einer „geforderten Generation“, die im Alltag vor allem die zeitliche Eingebundenheit als belastend empfinde. Ein Fanal an die Politik, das auch Familiensoziologe Schneider unterstützt. Er fordert eine Betreuungsinfrastruktur rund um die Uhr, um beispielsweise alleinerziehende Schichtarbeiterinnen zu entlasten und ihnen die Möglichkeit zu geben, dann Betreuungszeiten fürs Kind in Anspruch zu nehmen, wenn sie sie brauchen, wenn nötig, eben auch nachts. „Wir müssen das Geld, das wir in die Familienförderung stecken - ohne dass Kinderkriegen attraktiver geworden wäre -, anders anlegen in Deutschland. Wir brauchen keine Angebotsorientierung, sondern eine Nachfrageorientierung.“ Mit anderen Worten: Familien sollen sich nicht nach vorgegebenen Strukturen richten müssen, sondern das Umfeld müsse Strukturen schaffen, damit Familien es einfacher haben.

Auf diese Weise könne auch der Abbau ungleicher Startchancen gelingen. Noch einmal Schneider: „Wir müssen was für die Kinder tun.“ Vorbild für eine solche Politik seien Länder wie Dänemark oder Frankreich, wo Fremdbetreuung von Kindern nicht als Sakrileg betrachtet werde. Ein entsprechender kultureller Wandel könne auch das Dilemma lösen, in dem Frauen mit Kindern in Deutschland steckten: „Hier existiert kein positives Leitbild der Mutter: Geht sie arbeiten, gilt sie schnell als Rabenmutter, bleibt sie zuhause, wird ihr der Vorwurf gemacht, sie mache es sich auf Kosten des Mannes gemütlich oder sei ein volkswirtschaftliches Risiko.“

Wie man es auch dreht und wendet: Familie ist nicht mehr schlicht Vater, Mutter, Kind. Und die Welt der Mutter endet nicht mehr an der Herdplatte. Darauf haben auch die Erben des einstigen Kanzlers reagiert. Im September 2016 gab die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung ein neues Familienleitbild heraus: Die Hausfrauenehe sei ein Auslaufmodell, das flexible Zweiverdienermodell trete an seine Stelle. Schon das klingt vielfältiger als die einstige Losung Adenauers.