Von Oliver Stortz

Stuttgart - Ist es eine Regieanweisung, die ihm seine Berater ins Redemanuskript gemogelt haben? Oder doch ein seltener Augenblick der Spontaneität? Eine Dreiviertelstunde hat Nils Schmid schon gesprochen, dann lässt er die Etikette Etikette sein und legt sein Jackett ab. Kleine Geste, großer Applaus: Es ist das Signal des Ärmelhochkrempelns, eine Art Schröder-Moment, auf den die verunsicherte SPD-Basis gewartet hat.

Der Landeschef und Spitzenkandidat schwört die Seinen am Samstag in der Stuttgarter Liederhalle auf die heiße Phase des schwierigsten Wahlkampfes ein, den die Südwest-SPD in den vergangenen Jahrzehnten zu führen hatte. In Umfragen liegen die Sozialdemokraten bei 15 Prozent. Die Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der Grünen hat sich für die Genossen nicht ausgezahlt - trotz guter Arbeit, wie man in Stuttgart nicht müde wird, sich selbst zu versichern.

Die Ausgangskonstellation wäre für sich schon kompliziert genug: hie der mit überbordenden Beliebtheitswerten gesegnete grüne Regierungschef Winfried Kretschmann, da sein CDU-Herausforderer Guido Wolf, Schmid irgendwo dazwischen im Wahrnehmungsvakuum. Hinzu kommt nun, dass der Wahlkampf nicht im Zeichen von Bildungspolitik und sozialer Gerechtigkeit steht, wie die Genossen sich das wünschen würden, um auf ihre Regierungsbilanz verweisen zu können. Stattdessen dominiert das Flüchtlingsthema - und den Demoskopen zufolge laufen ausgerechnet die früheren Anhänger der SPD scharenweise zur AfD über.

Attacke auf Wolf

Schmid gibt sich in seiner Parteitagsrede kämpferisch. Die Genossen fordert er mantraartig auf, im Wahlkampf Haltung zu zeigen: „Für unsere Demokratie, für unsere Freiheit, gegen Hass, gegen Hetze, gegen Unmenschlichkeit.“ Es ist eine Ode an den Anstand, ein Appell an die politischen Erben Kurt Schumachers und Otto Wels’. „Anständige Leute wählen keine Rassisten“, lautet Schmids Kernsatz. Keine normale Partei, sondern die „Partei der geistigen Brandstifter“ sei die AfD. „Um der rechten Bedrohung zu begegnen, brauchen wir vor allem eines: Rückgrat.“

Auch aus den eigenen Reihen werfen manche Schmid vor, mit seiner Weigerung, in der „Elefantenrunde“ des SWR mit einem Vertreter der AfD zu diskutieren, gerade kein Rückgrat gezeigt zu haben. In der Liederhalle verteidigt der Finanz- und Wirtschaftsminister die Entscheidung, die er im Einvernehmen mit dem grünen Regierungschef Kretschmann getroffen hatte. Die Rechtspopulisten auf dem Podium zu entlarven sei eine „ernstzunehmende Alternative“, räumt er ein, wirbt aber um Verständnis für die andere, seine Position.

Dem CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf wirft Schmid vor, aus dem Erfolg der Rechtspopulisten Honig saugen zu wollen: „Wer im Anwachsen der AfD nur den taktischen Vorteil sieht, der darf nicht Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden“, ruft Schmid den Delegierten zu. „Hetzer und Heuchler“ sollten nicht über die künftige Regierung entscheiden. Die Auseinandersetzung mit den Christdemokraten fällt in Anbetracht deren eigenen Umfragetiefs knapp aus. Schmidt wirft Wolf vor, gesellschaftspolitisch „noch rückständiger als Stefan Mappus“ zu sein. Den grünen Koalitionspartner fordert er - mit Verweis auf die schwarz-grüne Liaison im Stuttgarter Rathaus, das als Labor für die Landespolitik gilt - auf, sich klarer zur Fortsetzung von Grün-Rot zu bekennen. Eher Prosa im Angesicht der Umfragewerte.

„Schwätze mit de Leut’“

Die Gefühlslage der Genossen trifft Schmid, die Basis feiert ihren Spitzenmann mit Standing Ovations. Doch hinter der Fassade ist die Sorge groß bei den Delegierten. Mit einem Wahlergebnis von 15 Prozent steht nicht nur die Fortsetzung der Wunschkoalition mit den Grünen auf dem Spiel, auch die Landtagsfraktion würde schmerzhaft schrumpfen. Prominente Genossen wie Fraktionschef Claus Schmiedel und Sozialministerin Katrin Altpeter müssen um den Wiedereinzug ins Parlament bangen. Ihre Wahlkreise gelten als unsicher.

Landesvizechefin Leni Breymaier gibt die Devise für die kommenden sieben Wochen aus: „Schwätze, schwätze, schwätze, schwätze mit de Leut’.“ Und neben dem Kopf müsse die SPD auch „die Bäuche und die Herzen ansprechen“.

Schwerpunkte des Wahlprogramms

Beim Landesparteitag in der Liederhalle hat die SPD auch ihr „Regierungsprogramm“ für die Landtagswahl am 13. März verabschiedet. Es trägt den Titel „Baden-Württemberg Leben“. Einige wesentliche Punkte aus dem Programm:

Wirtschaftspolitik: Der Mittelstand steht auch weiterhin im Mittelpunkt. Ziel der SPD ist es, das Land an der Spitze der Automatisierung in der Industrie (Industrie 4.0) zu halten. Die Forschung und der Technologietransfer in kleine und mittlere Unternehmen sollen gestärkt werden. Außerdem ist eine Ausbildungsplatzgarantie für jeden Jugendlichen im Südwesten vorgesehen.

Bildung: Der Ausbau der frühkindlichen Bildung soll fortgesetzt werden. Ziel ist ein flächendeckendes Ganztagsangebot. Bis 2023 sollen 70 Prozent der Grundschulen Ganztagsschulen sein. Das Gymnasium ist Bestandteil des aus zwei Säulen bestehenden Schulsystems.

Familien: Es sollen Ganztagsangebote, vom ersten Geburtstag bis zum letzten Schultag, angeboten werden. Kita-Gebühren sollen schrittweise abgeschafft werden.

Finanzen: Von 2019 an sollen Schulden abgebaut werden. Die Steuerfahndung soll mehr Personal bekommen.

Flüchtlingspolitik: Bessere Verteilung der Flüchtlinge. Damit soll die Überlastung einzelner Standorte und Kommunen verhindert werden.

Innere Sicherheit: Einführung der Körperkamera („BodyCam“) bei Polizisten, um Gewalt gegen die Beamten zu dokumentieren. Einführung einer anonymisierten Kennzeichnungspflicht für Polizisten bei Großereignissen.