Die UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel, Nadia Murad (links), und Lamiya Aji Bashar, die zusammen mit Murad mit dem Sacharow-Preis 2016 des Europäischen Parlaments ausgezeichnet wurde, gestern im Landtag. Die jesidische Menschenrechtsaktivistin Murad hat dem Land für die Aufnahme von Opfern der Terrormiliz IS gedankt. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Hermann Neu

Stuttgart - Es ist einer der raren Momente im Landtag, in denen der Parteienstreit ruht und die Smartphones eine Zeit lang unangetastet bleiben. Die junge Jesidin Nadia Murad dankt dem Land für die Aufnahme des Sonderkontingents verfolgter Frauen und Mädchen. Und sie fordert in ihrer vom nordkurdischen Dialekt ins Deutsche übersetzten Rede unter anderem eine sichere Zone für die verfolgten Jesiden im Irak. Die Gewalt im Norden des Landes nehme kein Ende.

Baden-Württemberg war das erste Bundesland, das bereits zu den Zeiten der grün-roten Landesregierung mit der Aufnahme verfolgter und traumatisierter Jesidinnen begonnen hat. 1000 der von der Terrormiliz IS gedemütigten und an Körper und Seele verletzten Frauen und Kinder haben im Südwesten Zuflucht gefunden. Um Racheaktionen von IS-Terroristen zu verhindern, leben sie abgeschirmt an geheimen Orten.

Weltweit zum Thema geworden

Der versuchte und zum Teil erfolgreiche Völkermord an den Jesiden mit ihrer 6000-jährigen Geschichte ist inzwischen weltweit zum Thema geworden. Fotos zeigen Nadia Murad zusammen mit der glamourösen Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, der Frau des Schauspielers George Clooney. Anfang November hat Murad vor dem kanadischen Parlament geredet. Auch dort will man nun verfolgte Frauen aufnehmen.

Das baden-württembergische Beispiel macht mittlerweile bei weiteren deutschen Bundesländern Schule. Schleswig-Holstein und Niedersachsen wollen ebenfalls jesidische Verfolgte aufnehmen, Signale gibt es laut Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auch aus Thüringen.

Im Landtag bekommt das Schicksal des kleinen Volkes aus dem Nordirak gestern ein Gesicht. Die 23-jährige Murad, die mit dem Sonderkontingent ins Land gekommen und im September zur UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel ernannt worden ist, dankt für die Hilfe für ihre Leidensgenossinnen.

„Im Sommer vor zwei Jahren war ich noch ein Mädchen voller Träume“, erzählt Murad bei ihrem bewegenden Auftritt im Parlament. Schöne Kleider und „die Hoffnung auf ein gutes Leben“ sind damals ihre Interessen. Die Familie lebt in einem Dorf, „das heute nicht mehr existiert“, erfolgt in Murads Erzählung der jähe Bruch. IS-Terroristen haben im August 2014 die Gegend am Sindschar-Gebirge erobert, ihre Mutter und sechs Brüder getötet „und alle meine Träume zerstört“.

Die Angehörigen der Terrormiliz bringen die meisten jesidischen Männer nach dem Überfall um. Frauen werden verschleppt, zu Sexsklavinnen gemacht „und behandelt, als hätten wir keinen Wert“, erzählt Murad. Nach drei Monaten schafft sie die Flucht und kommt später mit dem Sonderkontingent nach Baden-Württemberg. Manchmal habe sie „Gott gefragt“, warum sie nicht auch gestorben sei wie Mutter, Geschwister und Verwandte, erzählt Murad. Doch sie wolle „berichten und die Welt um Hilfe bitten“, beschreibt sie mit fester Stimme ihr Anliegen. Die Täter müssten vor internationale Gerichte gestellt werden, dabei gehe es „um Gerechtigkeit und nicht um Rache“. Nicht die Opfer hätten ihre Ehre verloren, sondern die Terroristen der IS-Milizen.

Außerdem gelte es, Jugendliche davor zu bewahren, sich „der Ideologie des Hasses anzuschließen“. Großes Lob Murads gibt es für das Vorgehen des Landes: Ohne das Sonderkontingent wäre es nicht möglich gewesen, dass sie inzwischen vor den Vereinten Nationen rede oder bei Kanzlerin Angela Merkel auf das Schicksal verfolgter Frauen aufmerksam machen könne. „Nicht nur unser Leben wurde gerettet, sondern auch unsere Stimme.“ Zuerst habe sie „gefürchtet, dass die Welt uns vergessen könnte“. Doch alle hätten ihr gesagt, dass dies nicht der Fall sei.

Andere Religionen und Völker achten

Wie in Europa die Kirchen aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hätten und den Dialog mit anderen Glaubensrichtungen führten, müssten sich auch die Muslime und ihre Repräsentanten gegen Gewalt aussprechen und andere Religionen und Völker akzeptieren, fordert die junge Frau in ihrer am Ende mit stehendem Beifall bedachten Rede. Deutschland sei für sie zum Segen geworden, erzählt Murad. Den hier aufgenommenen Menschen rät sie, zu einem Teil des Landes zu werden, die Sprache zu lernen und die Gesetze zu achten.

Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) hatte zuvor das „enorme Engagement“ der Haupt- und Ehrenamtlichen bei der Aufnahme des Sonderkontingents im Südwesten gewürdigt. Heute sei jedes Lachen der traumatisierten Frauen und Mädchen „ein Sieg über die Angst“. Niemand habe bei der Aufnahme der Jesidinnen erwarten können, dass auch die spätere UN-Sonderbotschafterin bei dem Kontingent dabei sei. Nadia Murad habe Schreckliches erlebt. Sie habe sich aber nicht brechen lassen und stehe heute gegen Völkermord und Gewalt.