Von Sibylle Peine

Seit seinem Besteller „Sofies Welt“ vor nunmehr 26 Jahren gilt der Norweger Jostein Gaarder (64) als Spezialist für philosophische Fragen, die er leicht verständlich in Romanform aufbereitet. In seinen Büchern spielen meist Kinder eine Hauptrolle. Der neue Roman „Ein treuer Freund“ ist jedoch anders: Protagonist ist ein in die Jahre gekommener Lehrer und Sprachforscher, philosophische Fragen werden eher am Rande gestreift. Gaarder legt hier vor allem eine psychologische Studie vor, das Porträt eines ebenso eigenwilligen wie liebenswerten Außenseiters, der auf fantasievolle Weise seiner Einsamkeit zu entfliehen sucht.

Jakops große Leidenschaft ist die Erforschung der indogermanischen Sprachen. Diese weit verästelte Sprachfamilie ersetzt ihm die in der Realität nicht vorhandene Verwandtschaft: „Ich habe keine lebenden Kinder oder Enkelkinder und keine lebenden Geschwister oder Eltern, aber ich habe lebende Wörter in meinem Mund, und ich kann sehen, dass es von Verwandten dieser Wörter von Island bis Sri Lanka überall im indogermanischen Sprachraum nur so wimmelt. Ich gehöre also einer Sprachfamilie an, der ich mich stark verbunden fühle. Hier haben meine Wörter ihre Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern, ihre Tanten und Onkel, ihre Vettern und Kusinen ersten, zweiten und dritten Grades.“

Trauerfamilien als Ersatz

Entsprechend verliert sich Jakop immer wieder in ausschweifende etymologische Exkurse. Seine zweite Leidenschaft ist der Besuch von Begräbnissen, auf die er sich undercover einschleicht. Die Daten entnimmt er öffentlichen Traueranzeigen und dem Internet. Am liebsten sind ihm große Trauerfamilien, als „Ersatz für mein fehlendes Familienleben“.

So bekommt er Zugang zur Sippe des verstorbenen Universitätsprofessors Erik Lundin, den er als Student nur flüchtig kannte, zu dem er sich jetzt aber eine tiefergehende Beziehung zusammenfantasiert. Jakops beim Leichenschmaus ersponnene Lügengeschichten sind der eigentliche Clou des Romans, der in Form eines Geständnisses aufbereitet ist. Adressiert ist diese Beichte an Agnes, die Jakop bei einer Beerdigung kennenlernt und in die er sich verliebt. Sie durchschaut sein Lügenspiel und ist mehr und mehr fasziniert. Kann sie Jakop erlösen?

Gaarders Roman ist eine große Versuchsanordnung zum Thema Einsamkeit. Das Buch ist dabei wie ein Überraschungspaket, Schicht um Schicht wird die Wahrheit enthüllt und der Held kunstvoll entlarvt. Dabei bereitet es durchaus Vergnügen, sich von Jakops Märchen verführen zu lassen. Störend sind allenfalls die ausufernden akademischen Abschweifungen.

Jostein Gaarder: Ein treuer Freund. Übersetzt von Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München. 270 Seiten, 22 Euro.