Von Oliver Pietschmann

Der millionenfache Mord an den Juden während der Nazi-Diktatur ist bis heute ein kaum vorstellbares Verbrechen. Der Weg in den Holocaust ist nicht einfach monokausal zu erklären. Der Historiker und Journalist Götz Aly zeichnet in seinem Buch „Europa gegen die Juden 1880-1945“ antisemitische Ressentiments, Ausgrenzungspolitik und Greueltaten seit den 1880er Jahren nach, die zum Nährboden für den Zivilisationsbruch wurden. Er liefert eine historisch detaillierte Analyse, klar und prägnant formuliert.

Eindrucksvoll schildert Aly den aufflammenden modernen Antisemitismus, ohne die Schuld der Deutschen am Massenmord zu schmälern. Die Nationalsozialisten erfanden nicht den Antisemitismus, die Ausgrenzung oder Vernichtung. Sie radikalisierten antijüdische Politik und industrialisierten im Holocaust das Morden.

„Das Deportieren und Morden geschah auf Initiative der Deutschen. Deutsche steuerten die bürokratischen Routinen des Erfassens, Ghettoisierens und Enteignens. Sie entwickelten die technischen Mittel des Mordens“, schreibt Aly. Doch ohne passive Unterstützung, arbeitsteilig helfende Beamte und Polizisten sowie Tausende einheimische Mordgesellen in manchen Ländern hätte sich das „monströse Projekt nicht mit der atemberaubenden Geschwindigkeit verwirklichen lassen“.

Aly setzt seine mit zahlreichen Augenzeugenberichten untermauerte Darstellung aus mehreren Gründen 1880 an. Von diesem Zeitpunkt an wurden in vielen Ländern Gesetze gegen die jüdische Minderheit erlassen. Nach Pogromen begann eine Wanderungsbewegung von Ost nach West. Als Antwort auf anschwellenden Nationalismus wurde mit dem Zionismus zu dieser Zeit auch eine jüdische Nationalbewegung ins Leben gerufen. Zudem entstand 1880 der Begriff des Antisemitismus, der nicht länger auf religiösen Vorurteilen fußt, sondern auf nationalen, sozialen und wirtschaftlichen Argumenten.

Seit 1880 gab es in zahlreichen europäischen Ländern eine Politik der Ausgrenzung, Immigration und Hunderte von Pogromen. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und einem zunehmenden aggressiveren Nationalismus verschärfte sich die Situation weiter.

Die Juden waren dabei die Minderheit par excellence. „Sie verfügte über keine Schutzmacht, über keine Armee. Für sie gab es kein Territorium, das Zufluchtsort oder Vertreibungsziel hätte sein können. 1920 betraf das unmittelbar sieben Millionen Juden.“ Sie lebten überwiegend in Polen, der Sowjetunion, Rumänien oder Ungarn. „Die Angehörigen nationaler Mehrheiten verachteten die Juden nicht als „Untermenschen“, auch wenn in Nazideutschland solche Schlagwörter gebraucht wurden. Vielmehr bewunderten und bekämpften sie diese, um im Bild zu bleiben, als Übermenschen.“

Die Nationalsozialisten bedienten sich all dieser Ressentiments, des Hasses und des Neids. Mit der Vertreibung durch die Nazis und den jüdischen Flüchtlingen gelang es der Diktatur zudem, die „Judenfrage“ zu exportieren und den Antisemitismus zu schüren. Das Ventil für den industriellen Massenmord war schließlich der Zweite Weltkrieg.

Der über Jahrzehnte sich bis zum Holocaust hin zuspitzende Hass gegen die Juden war auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht vorbei. „In den meisten europäischen Staaten wurde nach 1945 die Geschichte des Zweiten Weltkriegs tabuisiert.“ Die Mehrzahl der Mittäter, Denunzianten oder kleinen Profiteure wurde in Ruhe gelassen. Juden, die zurückkehrten, standen neuen Anfeindungen gegenüber. Als eine junge Ungarin, die unter anderem Auschwitz überlebte, zurückkehrte und bei einer früheren Nachbarin nach Familienbesitz fragt, bekommt sie die Antwort: „Sie wissen nicht, was wir alles durchstehen mussten.“ Vor einem Kino hört sie eine Frau über die Juden sagen: „Man trifft sie überall. Es sind mehr als man weggeschafft hat.“

Götz Aly: Europa gegen die Juden. 1880 - 1945. Fischer Verlag, Frankfurt. 431 Seiten, 26,80 Euro.