3.7.2016 Die Esslinger feierten ein ganzes Wochenende beim Bürgerfest.

 Foto: Hauenschild

Von Alexander Maier

Esslingen feiert - und das drei Tage lang. Bis zum Sonntag begeht die Stadt ihr Bürgerfest, und wie immer werden nicht nur die Esslinger auf den Beinen sein - auch von außerhalb haben sich viele Gäste angesagt. Bevor sich Esslingen mit Musik, Sport, Tanz und kulinarischen Angeboten von seiner lebendigsten Seite zeigt, waren gestern Abend im Schwörhof nachdenkliche Worte angesagt: Beim Schwörtag, der von der Stadtkapelle musikalisch umrahmt wurde, schrieb OB Jürgen Zieger den Esslingern mahnende Worte ins Stammbuch - und er war sich einig mit Schwörtagsrednerin Caroline Hornstein-Tomic, dass es in Zeiten großer gesellschaftlicher Herausforderungen bewusster und engagierter Bürger bedarf, um das Gemeinwesen auf Kurs zu halten und unliebsamen Entwicklungen Einhalt zu gebieten.

Gesellschaftliche Teilhabe für alle

Dem Oberbürgermeister bietet der Schwörtag stets Gelegenheit, das aktuelle politische Geschehen zu kommentieren und dabei den Fokus auf die Kommunalpolitik zu lenken. Der Erkenntniswert ist für Jürgen Zieger klar: „In den Städten bündeln sich wie unter einem Brennglas alle Fragen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft.“ Dass es nicht einfacher geworden ist, die politischen Geschicke einer Stadt zu lenken, weiß Zieger nur zu gut: „Alle Erwartungen an die Daseinsvorsorge und die öffentlichen Leistungen müssen nachhaltig finanziert sein.“ Die Stadt müsse ein anwachsendes strukturelles Defizit von jährlich 9,2 Millionen Euro bis 2020 abbauen. Deshalb warb er für die Sparvorschläge der Verwaltung. Und er nahm den Gemeinderat in die Pflicht: „Alle politisch gewählten Vertreter müssen sich daran messen lassen, das selbst gesteckte Ziel auch zu erreichen.“ Die Konsolidierungsvorschläge sichern nach Ziegers Worten „ein umfangreiches Angebot in den Netzwerken von Kultur, Sozialem und auch Sport und sind damit die Gewähr von Lebensqualität für breite Bevölkerungsschichten in Esslingen“. Teilhabe am Leben in der Stadt müsse weiterhin nicht nur für Wohlhabende möglich sein.

Der OB sieht den sozialen Frieden als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Errungenschaften - gleichzeitig beobachtet er jedoch, „dass sich die Einkommensverhältnisse immer weiter auseinander entwickeln“. Darauf müsse die Politik reagieren und zum Beispiel für bezahlbaren Wohnraum sorgen. Zieger warb für die Baupolitik der Stadt und für mutige Entscheidungen, die auch Esslingens wirtschaftliche Zukunft sichern: „Das sind wir nicht nur uns um unserer eigenen Glaubwürdigkeit, sondern auch unseren Kindern schuldig.“ Die jüngsten politischen Entwicklungen in Europa und das Erstarken der Rechtspopulisten bereiten Zieger Sorgen: „Wir sind gefordert und müssen kämpfen für unsere liberalen Grundwerte.“ Angesichts der komplexen politischen Herausforderungen der Zukunft ist für Zieger klar: „Wir brauchen auch in Esslingen eine Kultur der Auseinandersetzung, die von gegenseitiger Achtung für die Leistung und vor der Meinung des jeweils anderen geprägt ist.“ Der OB dankte all denen, die sich ehrenamtlich in der Stadt engagieren - nicht zuletzt für die Integration von Flüchtlingen. Und mit Blick auf vieles, was sich in den vergangenen Jahren in Esslingen etwa in den Bereichen Bildung, Ökologie und Stadtentwicklung positiv verändert hat, gab er zu bedenken: „Diese Erfolge zeigen, was Hartnäckigkeit, gutes Chancenmanagement und Gemeinsinn ermöglichen.“

Caroline Hornstein-Tomic, die Vizepräsidentin der Bundeszentrale für politische Bildung, sieht angesichts der aktuellen Veränderungen national und international eine wachsende Verunsicherung in unserer Gesellschaft. Deshalb stelle sich immer drängender die Frage: „Wie gestalten wir als Bürgerinnen und Bürger unser Gemeinwesen? Wie bringen wir uns in demokratische Entscheidungsprozesse ein? Und wie erreichen wir diejenigen, die sich nicht mehr aktiv für Politik interessieren - oder es noch nie getan haben?“ Und sie gab ihren Zuhörern zu bedenken: „Europa, unsere Demokratie und der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft - das geht uns alle etwas an.“

Die Schwörtagsrednerin sah viele Herausforderungen für die politische Bildung - so wie die Integration von Flüchtlingen, die nicht nur physisch, sondern auch geistig und sozial ankommen müssten. Angesichts der Sorge vieler Menschen vor Zuwanderung und kultureller Diversität, die gerade von Rechtspopulisten gern genutzt wird, plädiert Caroline Hornstein-Tomic dafür, den kommunikativen Austausch zu suchen, Kontroversen auszutragen und Widersprüche auszuhalten. Politische Bildung müsse klar Stellung beziehen gegen unterschiedlichste Formen des Extremismus’ und den europäischen Gedanken lebendig halten. Und sie müsse Möglichkeiten der politischen Teilhabe für alle entwickeln helfen und damit gelebte Demokratie befördern. Bei alledem brauche die politische Bildung genau wie die Politik selbst Leidenschaft und Augenmaß.

Carmen Tittel verpflichtet Gemeinderat und OB

Die Verpflichtung von Gemeinderat und OB auf das Wohl der Stadt übernahm Carmen Tittel. Die Fraktions-Chefin der Grünen beklagte eine zunehmende Polarisierung in unserer Gesellschaft, sah aber auch hoffnungsvolle Zeichen - nicht zuletzt mit Blick auf den ehrenamtlichen Einsatz für Flüchtlinge. Europäische Werte wie Freiheit und Menschenrechte dürften nicht preisgegeben werden. Gerade in einer Zeit, in der zivilisatorische Errungenschaften in Frage gestellt würden, sei es von wachsender Bedeutung, für demokratische Grundsätze einzutreten. Vielfalt in einer Gesellschaft sei etwas Positives und eröffne Chancen auf Entwicklung: „Wir müssen offen auf die Menschen zugehen - egal welcher Herkunft.“ Teilhabe und ehrenamtliches Engagement, wie sie in Esslingen auf vielfältige Weise praktiziert werden, sind für sie „gelebte politische Kultur“.