Quelle: Unbekannt

Von Petra Weber-Obrock

Was geschieht, wenn einer erfolgreichen Geschäftsfrau plötzlich der Donnerstag abhandenkommt? Was, wenn die Autobahn ins Nirgendwo führt? Kathrin Rögglas Erzählband „Nachtsendung“ (S. Fischer, 22 Euro) versammelt, treffend untertitelt mit „unheimliche Geschichten“, messerscharf gezeichnete Texte, in denen die Wirklichkeit auf mehr oder weniger absurde Weise ins Surreale abrutscht. Ihre Protagonisten, oft dem Kreis der uhrwerkartig funktionierenden Urban Professionals entsprungen, werden unversehens aus ihrer Welt herausgeschleudert. Doch welche Realität entspricht hier eigentlich dem Normalen? Im Rahmen der Reihe „Internationale Autoren“ war Kathrin Röggla nun zu Gast bei der LesART und las aus ihren gleichermaßen verwirrenden wie erhellenden Texten.

„Kathrin Röggla ist eine der meistgespielten deutschsprachigen Theaterautorinnen der Gegenwart“, sagte Esslingens Finanzbürgermeister Ingo Rust und zitierte die Neue Zürcher Zeitung, als er der 1971 in Salzburg geborenen Autorin eine „Zeitzeugenschaft, wie sie heute selten geworden ist“, attestierte. Kathrin Röggla lebt in Berlin-Neukölln, hat eine Reihe von Preisen gewonnen und ist 2015 zur Vizepräsidentin der Akademie der Künste gewählt worden.

Moderiert wurde der Abend vom Literaturwissenschaftler und ehemaligen Hochschullehrer der Universität Stuttgart, Thomas Rothschild. Ob in Form von erzählender Prosa, Theaterstücken, Essays, Hörspielen oder Filmen - Kathrin Röggla nutzt literarische Formen auf vielfältige Weise. Rothschild stellte gleich zu Anfang der Lesung fest, dass ihr dabei eine „höchst ungewöhnliche und alles andere als konventionelle“ Verbindung von politisch-gesellschaftlichen Themen mit experimentellen Erzählweisen gelinge. Entlarvend bedient sie sich bei ihren Stippvisiten auf der Nachtseite unserer Gesellschaft des Jargons des Alltäglichen, Familiären und Geschäftlichen, in den sich hinterrücks das Fremde einschleicht.

Kathrin Röggla schaffte es an diesem Abend, gleichzeitig intellektuell hochkarätig zu erzählen und Sympathien zu wecken. „Wann kommen Sie als viel beschäftigte Frau und Mutter von drei Kindern zum Schreiben“, fragte Rothschild. „Die Zeit muss ich mir herausschneiden. Das geht auf den Schlaf“, antwortete sie auf diese sehr persönliche Frage. Der Erzählband „Nachtsendung“ enthält 42 mehr oder weniger kurze Texte. In der Geschichte „Tangente“ lässt sich die NGO-Mitarbeiterin Lavinia von ihrem Fahrer in Mumbay zum Flughafen fahren, eine alltägliche Situation für sie. Seltsam scheint nur, dass sich der Airport immer mehr zu verflüchtigen scheint, desto näher sie ihm kommen. Ein Sinnbild der Globalisierung entsteht, in der Städte zu Molochen voller unwägbarer Risiken werden.

Die Geschichte „A9 mit A3 mit A7“ enthalte extrem viel Autobiographisches, sagte Röggla im Voraus. Wenn Sylvia Hardt an „vorbeifliegenden Landschaftsresten“ und brennenden Bussen entlangfährt, drohen jede Menge Gefahren von Autobahnsnipern und roten Golfs mit Naziaufklebern. Während die beiden Kinder auf dem Rücksitz Kotzattacken androhen, sieht die Fahrerin in jedem Blinklicht eine Infrarotkamera, die sie registrieren will. Überleben auf der Autobahn ist dabei nicht garantiert. Und wenn der knallharten Geschäftsfrau Manuela plötzlich der Donnerstag aus dem Gedächtnis getilgt wird - Schwamm drüber, das ist alles im Rahmen und im grünen Bereich. „Die Grenzen verschwimmen in den Erzählungen“, sagte Thomas Rothschild und entdeckte Anklänge an Kafka und die dunkle Seite der Romantik in ihnen.

Gefragt nach ihren Beweggründen, erzählte Röggla von ihrer ursprünglichen Absicht, eine Dystopie zu schreiben. Herausgekommen sind kleine Blitzlichter auf die an sich schon dystopische Gegenwart. „Die Motive zeigen die Krise einer merkwürdigen Mittelschicht an, die sich selbst beglaubigen muss.“ Die Geschichten muten dadurch sehr deutsch, sehr gegenwärtig, fast postdemokratisch an.