Rachel (Emily Blunt) beobachtet mit wachsender Neugier vom Zug aus die Häuser an der Bahnstrecke und deren Bewohner. Foto: Constantin Film Quelle: Unbekannt

Von Gaby Weiß

Esslingen - Viele schauen beim Zugfahren in die am Fenster vorbeiziehenden Häuser. Und nicht wenige inspiriert dieser Blick in fremde Wohnungen dazu, sich das Leben der Bewohner auszumalen. Die Hoffnung, bei ihren regelmäßigen Fahrten im Pendlerzug irgendwann einmal Zeugin von etwas Aufregendem zu werden, hat die Schriftstellerin Paula Hawkins zu ihrem raffinierten Thriller „The Girl on the Train“ inspiriert. Die Fans des Romans, der sich weltweit 15 Millionen Mal verkauft hat, dürfen aufatmen: Seine Verfilmung ist richtig gelungen, das Team um Regisseur Tate Taylor hat sich exakt an der Textvorlage orientiert und eng mit der Autorin zusammengearbeitet.

Ein Leben in Trümmern

Rachel (Emily Blunt), Mitte 30, sitzt jeden Morgen im Vorortzug und fantasiert sich in die heile Welt glücklicher Vorstadtfamilien hinein: Zu gerne würde sie in diesen hübschen Häusern wohnen, die süßen Kinder aufziehen und so ein perfektes Leben führen. Rachels freudloses Dasein liegt seit ihrer Scheidung von Tom (Justin Theroux) in Trümmern, ihr Alkoholkonsum ist beunruhigend, und sie ist auch psychisch angeschlagen: „Man sieht es mir an, ich bin nicht mehr das Mädchen von früher“, urteilt sie selbst über sich. Eines Morgens macht Rachel eine schockierende Entdeckung: Sie wacht mit Filmriss und üblem Kater, blutenden Wunden und blauen Flecken auf - und kann sich an nichts erinnern. Im Fernsehen wird Megan (Haley Bennett) als vermisst gemeldet, jene junge Frau, die Rachel allmorgendlich vom Zug aus beobachtet hat. Was ist passiert? Hat sie selbst etwas mit Megans Verschwinden zu tun? Rachel will Klarheit. Nach und nach erkennt sie aber, dass sie weder ihren Beobachtungen noch ihren Empfindungen oder ihren zugegeben nur vagen Erinnerungen aus der Vollrausch-Nacht trauen kann.

Der Zuschauer findet sich selbst mittendrin in diesem rätselhaften Spiel, das sich als Psycho-Puzzle aus unterschiedlich wahrgenommenen Realitäten mit Falltüren und doppeltem Boden, aus Wunsch- und Albträumen, aus Lügen und Wahrheiten, aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem entpuppt. Als die Kriminalpolizei mit ihren Ermittlungen beginnt, wird irgendwann jeder verdächtig: Megans Mann (Luke Evans), ihr Psychiater (Edgar Ramirez) und natürlich Rachel mit ihrem Blackout.

Wenngleich Rachel die Hauptfigur ist, so wechselt die Perspektive: Neben Rachel und Megan erzählt auch Megans Nachbarin Anna (Rebecca Ferguson) ihre Sicht der Dinge. Der aufmerksame Zuschauer, der den Datumsanzeigen folgt, behält den Überblick. Erst nach und nach lassen sich die Erinnerungsschnipsel zuordnen, fallen die Puzzleteile an die richtige Stelle, und erst ganz zum Schluss fügt sich, was anfangs unerklärlich und unlogisch schien, doch noch zu einem kompletten Bild.

„The Girl on the Train“ ist ein Film mit lauter brüchigen Charakteren: Jeder hat Schwächen und Untiefen, jeder hat seinen eigenen Dämon, den er nur mühsam in Schach halten kann, und manch einer hat ein dunkles Geheimnis. Der Zuschauer mag irgendwann mal keiner der drei Hauptfiguren und ihren Beobachtungen mehr trauen: Wer ist zuverlässig? Wer ist glaubwürdig? Wer lügt? Raffiniert wird vom ach so trügerischen Schein der vermeintlichen Vorstadt-Idylle erzählt, von Einsamkeit und Leidenschaft, von Sucht und Abhängigkeit, von Schwäche und Stärke.

Schritt für Schritt aus dem Sumpf

Tate Taylors neuer Film setzt auf geballte Frauenpower, wobei Emily Blunt als Rachel in der Hauptrolle die am tiefsten ausgelotete Figur ist. Es ist einfach großartig, wie die britisch-amerikanische Schauspielerin die Rolle der Rachel anlegt, die irgendwann ganz unten ist und sich langsam und zäh aus dem Sumpf herausarbeitet - und sich damit selbst hilft. Die beeindruckende Arbeit der Kamerafrau Charlotte Bruus Christensen ermöglicht es, dass der Zuschauer Teile des Films wie mit Rachels Augen sehen kann: In ihren betrunkenen Phasen wackelig mit der Handkamera, stets aufs Äußerste angespannt und manchmal verzerrt, als könnte man in ihre Gedankenwelt eintauchen. Rachels Geschichte, die für diesen Film von London nach New York verlegt wurde, beginnt und endet am Untermyer-Brunnen im Central-Park, wo ein schönes Sinnbild für die drei Frauenfiguren des Films steht: In Walter Schotts Kinder-Denkmal „Three Dancing Maidens“ bilden drei tanzende Mädchen einen Kreis - so sind sie für immer miteinander verbunden.

Akkurat orientiert an der Textvorlage und in enger Zusammenarbeit mit der Autorin haben Regisseur Tate Taylor und Drehbuchautorin Erin Cressida Wilson aus Paula Hawkins’ Bestseller „The Girl on the Train“ einen beeindruckenden Leinwand-Thriller gemacht.