Von Detlef Drewes

Wer in diesen Tagen vor dem 60. Geburtstag der EU Bilanz zieht, beginnt üblicherweise mit den Krisen: Flüchtlinge, Euro, Staatsschulden und so weiter. Je älter die Union wird, desto länger fällt die Liste aus. Dabei tut der Blick in die Gründerzeiten gut, weil er zeigt: Es war damals nicht anders. Man lag sich über den Abbau von Zöllen, übers Geld und die gerechte Lastenverteilung in den Haaren.

Als ob Streit zwischen autonomen Staaten über das richtige Miteinander nicht normal wäre - in jedem Fall aber besser, als alles, was die Menschen in den Jahrzehnten vor dem Beginn der europäischen Integration durchmachen mussten. Aber je mehr Länder das Projekt zusammenfasste, umso herzlicher wurde miteinander gerungen. Miteinander zu diskutieren, wo früher Panzer gerollt sind, ist und bleibt ein Verdienst - auch wenn er nach mehr als 70 Jahren ohne kriegerische Auseinandersetzung auf dem Boden der Unionsmitglieder selbstverständlich geworden scheint. Reicht das, um für die EU zu werben?

Ja, sagen die Mitgliedstaaten, die nahe an der Grenze zu Russland immer neu Furcht vor Übergriffen haben. Nein, antworten jene, die glücklich sind, weiter weg zu leben. Als ob nicht alle auch von den Grundwerten wie Reisefreiheit oder Binnenmarkt profitieren würden. Die öffentliche Belustigung über Richtlinien, in deren Folge die Saugkraft von Staubsaugern reguliert oder die Anforderungen an Standby-Schaltungen harmonisiert werden, ist verständlich. Dabei gehören diese Schritte dazu, wenn man Klimapolitik nicht unverbindlich lassen will.

Wer nur die oft gespannte Atmosphäre zwischen den Staats- und Regierungschefs im Blick hat, aber vergisst, dass das Räderwerk im Kleinen funktioniert und Fortschritte produziert, kommt der europäischen Wirklichkeit nicht einmal annähernd nahe. Wer, wenn nicht übernational agierende, kompetente, europäische Behörden wie die Kommission und das Europäische Parlament hätten denn den Mobilfunk-Providern und ihren überzogenen Roaminggebühren ein Bein stellen können?

Die Reibereien zwischen den Staaten mussten zunehmen, je größer die Zahl der Mitglieder und je unterschiedlicher die Interessen wurden. Dennoch hat die EU bewirkt, dass sich Staaten heute nicht mehr gegeneinander aufhetzen lassen, so stark die Nationalisten und Extremisten auch geworden sind. Und wer erlebt, wie die politischen Vertreter von Blöcken, die noch vor 30 Jahren mit Raketen aufeinander zielten, heute über gesundheitsschädliche Weichmacher in Baby-Artikeln streiten, der darf zu Recht bewegt sein.

Diese EU mag kein Idealfall sein, aber sie ist das einzige politische Lösungskonzept für Krisenregionen, zu denen dieser Kontinent lange gehörte. Die Kritiker haben ja Recht: Dieser Moloch ist zu unbeweglich, zu bürokratisch, zu sehr vom Egoismus der Mitgliedstaaten bestimmt. Wir Deutschen sind da keine Ausnahme. Aber ihr Fazit geht daneben: Das sind Gründe, um die EU zu verbessern, nicht um sie abzuwickeln.

Wer einen Zusammenhalt in Vielfalt und mit starken autonomen Mitgliedstaaten haben will, die für Wohlstand möglichst hindernisfreien Handel miteinander treiben, muss wissen, dass Streit zum Tagesgeschäft gehört. Der Weg ist das Ziel - diese Binsenweisheit stimmt auch für Europa. Dieser Staatenbund steht an seinem Geburtstag vor einem Berg an Problemen. Aber auch vor einer langen Liste an Errungenschaften. Wer weder das eine, noch das andere übersieht und würdigt, kann eigentlich nur zum Schluss kommen: Gäbe es diese EU für Europa nicht, müsste man sie im Interesse der 503 Millionen Bürger und all derer, die um uns herum leben und von dieser Gemeinschaft profitieren, schaffen.