Schilder zeigen das Motto "Nürtingen ist bunt". Foto: SDMG - SDMG

Auf dem Nürtinger Schillerplatz und rund um den Ochsenbrunnen hat am Samstagvormittag Volksfeststimmung geherrscht. Bei frostigen Temperaturen feierten hunderte Menschen, andere Schätzungen gehen von bis zu tausend aus. Während die „Alternative für Deutschland“ in der Stadthalle die Öffentlichkeit ausschloss, wurde in Nürtingens Straßen getanzt.

Von Philip Sandrock

Für einen Außenstehenden war es ein tristes Bild: Die Stadthalle K3N war festungsmäßig abgesichert, und drinnen tagte bei heruntergelassenen Jalousien die Alternative für Deutschland (AfD) . Es galt, weitere Landeslistenplätze für die Bundestagswahl im September zu vergeben. Erst am Dienstagabend hatte sich ein bürgerliches Aktionsbündnis gegen diese Veranstaltung formiert. Der Name war schnell gefunden – „Nürtingen ist bunt“. Und der Zulauf überraschte selbst die Organisatoren. „Wir hatten gehofft, dass es ein Erfolg wird, aber dass tatsächlich so viele Nürtinger trotz der Kälte gekommen sind, ist toll“, sagte Organisator Michael Medla.

Mehr als 50 Stände und Aktionen von Einzelpersonen oder Organisationen waren zwischen Volksbank und Schillerplatz aufgebaut. Malen konnte man und basteln, sich schminken lassen. Hier flog Konfetti, dort posierte ein Clown. Die Sternsinger waren unterwegs, Teilnehmer verteilten selbstgemachte „Glücklich-Kekse“, andere spielten Blasmusik, Initiativen und Stände von Parteien waren ebenfalls vertreten.

Musikalisch umrahmt von der Jam Zentrale kam stellenweise Volksfeststimmung auf: Der Kreisdiakonieverband und andere Gruppierungen verteilten heiße Getränke. Von der Jugendwerkstatt gab es „bunte Waffeln statt brauner Würstchen“ – so ließ sich den Minusgraden trotzen. Aber das beste Mittel gegen die Kälte war Musik: und so wurde immer wieder auf dem Schillerplatz getanzt.
Laut Polizei waren es etwa 400Teilnehmer, die sich dem bunten Treiben anschlossen. Die Veranstalter schätzten mehr als doppelt so viele. Der Platz war voll, und die Zuschauer standen dicht gedrängt vom Ochsenbrunnen bis zur Absperrung auf dem Jorderyplatz. Medla war vor allem über die Vielfalt der Teilnehmer erfreut: So seien Unternehmer und Gewerkschaften, Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften, Vereine und Parteien gekommen. Auch eine Gruppe von Flüchtlingen beteiligte sich. Mit selbst geschriebenen Schildern wie „Danke Deutschland“ oder „Solidarität zwischen Christen und Muslimen“ flankierten sie die Stände. Bunt wurde es auch in manchen Geschäften. Der Weltladen verteilte – natürlich bunte – Gummibärchen. Das rote Buchhaus war mit einem Stand vertreten, und auf das Schaufenster der Buchhandlung Zimmerman konnten Passanten mit kleinen Klebezetteln den Satz „Nürtingen ist bunt, weil . . .“ ergänzen. „. . . Vielfalt immer besser ist als Einfalt“ stand auf einem Zettelchen, „. . . Liebe keine Grenzen kennt“ auf einem anderen. Darüber hinaus demonstrierten drei antifaschistische Bündnisse, wobei es bis auf ein paar kleinere Zwischenfälle friedlich blieb.

Appell zu Weltoffenheit

Auf der Abschlusskundgebung warnte Gerhard Wick, Hauptbevollmächtigter der IG Metall im Landkreis Esslingen, vor der Politik der AfD. Sie sei unsozial, weil sie das Renteneintrittsalter erhöhen und Altersbezüge kürzen wolle. Es sei eine Partei, die von der Angst lebe. Wick kritisierte zudem die jüngste Rede von Björn Höcke. Auch der Journalist Andreas Warausch sagte, dass man Demokratie und Freiheit nicht geschenkt bekomme. Man müsse für sie kämpfen. Die AfD sei eine Partei der Entsolidarisierung, die durch Ausgrenzung von Schwächeren Politik mache. Derzeit seien dies Flüchtlinge und Muslime, ein Blick ins Parteiprogramm zeige aber, dass durchaus auch sozial Schwächere das Ziel seien. Das dürfe man als Gesellschaft nicht zulassen. „Gegen etwas jemanden zu sein, ist immer zu wenig. Deshalb sind wir heute für etwas: für unser buntes und unser offenes Nürtingen.“

Den ehemaligen Nürtinger Bürgertreffleiter Hannes Wezel konnte man auch ohne Mikrofon verstehen: Er habe schon mal an dieser Stelle demonstriert, 1982 gegen den Parteitag der NPD. Jetzt seien es die Populisten, denen man zeigen müsse, dass Nürtingen weltoffen ist. Wezel, der sich nun im Staatsministerium in Stuttgart für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung auf Landesebene einsetzt, hielt ein flammendes Plädoyer für mehr Bürgerengagement. „Gegen Populismus ist ein Kraut gewachsen – und das heißt Engagement.“ Nürtingen sei ein tolles Beispiel für eine bunte Stadt mit einer engagierten und offenen Zivilgesellschaft, sagte Wezel.

Außerdem sprachen Andrea Lotz-Bügner von der Eine Welt-Gruppe, die SMV-Vertreterin und Jugendrätin Florine Mahmud, der Garten- und Landschaftsbauer Albrecht Bühler, Maritta Zöllner vom Frauenverein Courage, ein Flüchtling sowie Carsten Krinn von der Arbeiterwohlfahrt. Michael Medla und Pit Lohse äußerten sich im Namen der Organisatoren zum großen Zuspruch. „Wir dürfen nicht ausgrenzen“, betonte Lohse, sondern müssen miteinander reden. Medla verlas derweil die „Nürtinger Erklärung“.

Dekan Michael Waldmann von der evangelischen Kirche berief sich sodann auf die christlichen Werte, die auch von der AfD gerne ins Feld geführt werden würden. „Die Bibel ist ein einziges Buch der Flüchtlinge und Vertriebenen“, sagte er. Und deshalb sei das Miteinander dort von besonderer Bedeutung. Waldmann zitierte die Bibel über den Umgang mit Fremden: „Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“

Nürtinger Erklärung

„Unsere gemeinsame Orientierung an den Werten Toleranz, Vielfalt und Solidarität, eine Haltung der (Welt-) Offenheit, des Respektes und der Dialogbereitschaft sind die Grundlage unseres Aktionsbündnisses. Das Parteiprogramm der sogenannten 'Alternative für Deutschland' basiert dagegen im Wesentlichen auf der Mobilisierung ihrer Wähler durch Angst und Ausgrenzung. Wir orientieren uns an anderen Haltungen, wir engagieren uns für ein friedliches Zusammenleben und eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen. Unser Anliegen ist der Erhalt und die Weiterentwicklung eines demokratischen, vielfältigen und zukunftsfähigen Zusammenlebens. Damit sind wir wenig empfänglich für angstbesetzte und ausgrenzende Politik. Genau diese Grundhaltung bringen wir heute zum Ausdruck: Vielfalt und Kreativität, Dialogfähigkeit und Einfühlungsvermögen sollen mit unseren kulturellen Aktionen in Nürtingen gelebt und sichtbar werden! Lasst uns alle gemeinsam Nürtingen als eine Stadt erleben und erlebbar machen, in der es für angstbesetzte, ausgrenzende Parteipolitik und deren rechtslastigen Populismus keinen Platz gibt.“